Mit #UNFINISHEDTRACES haben die Künstler*innen die Ausstellungsserie selbst betitelt. Er bezieht sich auf Gemeinsamkeiten in ihren Arbeiten, die auf unterschiedliche Art eine Spurensuche verfolgen; Erinnerungen, nicht erzählte Geschichte(n), die eigene Biografie und der Versuch, Abwesendes erfahrbar zu machen, sind Ankerpunkte der einzelnen Projekte. Mit dem Hinweis auf das Unabgeschlossene eröffnet sich ein Spannungsfeld zwischen Zukünftigem und Vergangenem. Jede Ausstellung an sich ist die Verwirklichung einer Möglichkeit – Vieldeutigkeit, Durchlässigkeit und Beweglichkeit spielen hierbei eine Rolle, sowohl von künstlerischer wie auch institutioneller Seite. Es entsteht ein Experiment, das über die spezifischen Projekte hinausweist. Ergänzt durch ein Online-Begleitprogramm, wird sich über drei Monate ein vielseitiger Dialog entfalten.
Metaphorische und tatsächliche Spuren sind Ausgangspunkt für Jeewi Lees Installationen, Aktionen und Bildserien. Sie interessiert sich für die Indexikalität von Spuren als Nachhall von Abwesendem, das sich in den Verlauf der Zeit eingeschrieben hat und so auch Teil einer Zukunft wird. Mit ihrer Ausstellung im Kunstverein in Hamburg reflektiert Lee, wie sich Krisenmomente wie die aktuell grassierende COVID-19-Pandemie, in ein kollektives Bewusstsein einprägen und unsere Wahrnehmung nachhaltig verändern. Seit Monaten befindet sich die Welt in einem Ausnahmezustand, in dem es schwerfällt, abzusehen, wie es weitergehen kann. Es scheint, als könnten wir nur noch navigieren und nicht mehr kontrollieren. Zugleich stellt sich die Frage, inwieweit unser menschliches Handeln die jetzige Situation bedingt hat. Bernd Scherer, Intendant des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin, schrieb dazu jüngst: „Die anthropozäne Welt ist eine Welt, in der es kein Außen mehr gibt. Da menschliches Wissen und Technologie den Planeten als Ganzes transformiert, sind Menschen als Akteur*innen immer auch Teil des Geschehens. Wir stellen permanent die Welt her, der wir dann ausgesetzt sind.“
Diese Gedanken haben auch Lee bei der Vorbereitung ihrer Ausstellung im Kunstverein in Hamburg bewegt, die ebenfalls von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Seit Monaten sitzt die Künstlerin in Marokko fest. Eigentlich war sie auf der Durchreise auf dem Weg zurück nach Berlin von einem Residency-Programm, doch der erlassene Ausreisetopp verhinderte den Heimweg vorerst. Am 10. Juni wurde dieser Lockdown in Marokko zum dritten Mal verlängert.
Lee macht die mehrteilige Arbeit Ashes to Ashes (2019/2020) zum Kern der Ausstellung. Sie besteht aus handgefertigten Seifen, in denen Asche und Kohle aus dem toskanischen Waldgebiet Monte Serra verarbeitet ist, wo es im September 2018 zu einem schweren Brand kam. Mehr als 600 Hektar Land waren von dem durch Menschenhand verursachten Feuer betroffen. Während ihres Aufenthalts in der Villa Romana Florenz reiste Lee zum Unglücksort, um Asche und verkohlte Baumstämme zu sammeln. Aus diesen stummen Zeugen des menschlichen Einflusses auf die Natur erschuf sie die Seifen, die zum Teil eines Kreislaufes werden, der von Zerstörung und Erneuerung erzählt. Ein Waldbrand hinterlässt einen sehr fruchtbaren Boden, auf dem schnell eine neue Pflanzenwelt gedeiht – ein Fakt, auf dem auch die jahrtausendealte landwirtschaftliche Tradition der Brandrodung beruht. Auch Seife steht im Kontext ritueller Reinigungen in Verbindung mit einem Neuanfang.
Über diese Referenzen verweist Lee auch auf das Anthropozän, das Erdzeitalter, in dem der Mensch zum ausschlaggebenden Einflussfaktor auf sämtliche Prozesse auf dem Planeten geworden ist. So gehen beispielsweise fast alle Waldbrände auf den Menschen zurück und die in den vergangenen Jahren gehäuften Großfeuer werden durch die globale Erwärmung noch begünstigt und die immensen Tonnen an CO2, die produziert werden, beschleunigen den Treibhauseffekt noch zusätzlich.
Die ökologischen Gedanken in Lees Arbeit werden heute noch mit einer anderen Thematik verschränkt. Mit einem Stück Seife assoziieren wir derzeit die grundlegenden Hygienemaßnahmen, an die wir seit Monaten erinnert werden. Die Erfahrungen der Pandemie führen dazu, dass Überlegungen zu Entschleunigung und Nachhaltigkeit mit neuer Dringlichkeit diskutiert werden. Die unmittelbare Bedrohung und existenzielle Angst erscheinen greifbarer als bei den Debatten um den Klimawandel. Dennoch stehen beide Phänomene unmittelbar in Verbindung mit menschlichem Handeln auf dem Planeten. Hinzu kommt, dass die Zwangspause durch den Lockdown auch zu einer Neufokussierung aufs Wesentliche führt und viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten infrage gestellt werden.
Mit dieser zusätzlichen Lesart ihrer Arbeit spielt die Künstlerin in der Ausstellung. Darauf verweist schon der Titel: die simple Vorsilbe re-, die als Wortbildungselement Begriffe mit der Bedeutung „Wiederholung“ oder „Erneuerung“ kennzeichnet, oder auch „entgegen“. Seit der dritten Verlängerung des marokkanischen Lockdowns sendet Lee Postkarten an den Kunstverein aus ihrem Exil in Casablanca, auf die sie jeweils ein Wort schreibt, das mit „re-“ gebildet wird. Die Karten treten stellvertretend für sie einen Weg an, der der Künstlerin aktuell verwehrt ist. Sie kommunizieren ein Nachsinnen über Neubeginn oder Umkehr und den Wunsch, nach über drei Monaten nach Hause zurückkehren zu können. Zugleich verknüpfen die Postkarten in der Ausstellung unterschiedliche Realitäten. Während sich in Deutschland die Lage zu entspannen und normalisieren scheint, sind die Auswirkungen des Coronavirus‘ in Marokko nach wie vor akut und bedeuten drastische Einschränkungen für die Bevölkerung.